"Daniel Jesus". Das Magazin, Jg. LXXVII, 4 (1908), p. 65; Neuabdruck in: Gesichte, 1913, p. 83; zusammen mit dem Gedicht "Paul Leppin" zu Ehren von Leppins 50. Geburtstag unter dem Titel: "Paul Leppins 'Daniel Jesus'." Prager Presse, Jg. VIII, 328 (25. November 1928), 'Dichtung und Welt' 48, p. 1. Wiederabdruck in Margaret Kupper. "Wiederentdeckte Texte Else Lasker-Schülers." Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N.F. V (1964), p. 249 f. und E. Lasker-Schüler. Gesammelte Werke. Bd. 2: Prosa und Schauspiele. Ed. Friedhelm Kemp. München 1962, p. 245-247 unter dem Titel "Paul Leppin".




      Ein großer kantiger Vampirflügel mit Apostelaugen schwebt Paul Leppins Roman: "Daniel Jesus" vor mir auf. Hier wandelt nicht das Werk auf Füßen und ich suche nicht nach seiner Erde. Paul Leppins Roman ist eine Flügelgestalt, Himmel und Hölle schöpfen Atem aus ihrem rauschenden Brunnen. Hat Paul Leppin "Daniel Jesus" oder hat Daniel Jesus "Paul Leppin" erschaffen? Die Vieraugen des großen, kantigen Romans sind vom gleichen, tiefen Wachen. Aber Paul Leppin ist gewachsen, ungekrümmt, eine Linde und sein Haar duftet nach dem sanften Blond ihrer Blüten, und Daniel Jesus hat einen Buckel und unersättlich ist sein fahler Durst. Auf deine müde Hand, Daniel Jesus, tropft traumleise ein Goldtröpfchen, Marta Bianka tritt barfuß aus dem Herzen durch die Paulpforte. Voll Sonnenbangen ist Paul Leppin wie der Gipfel goldbedrängt und er formt schwermütig aus goldenen Träumen, die bis in die Wolken ragen, bleierne Buckel. Mit gläubiger Gebärde aber schaufelt die Frau des Schusters das Martyrium von Daniel Jesus Rücken ... – "Prinzessin", sagt Paul Leppin zu mir, "wir wollen auf einen wilden Ball gehen"; aber wir finden nur klingelbehangene Tanzböden. Paul Leppin sehnt sich nach der Orgie seines Romans; die dreht sich aber hinter Sternenvorzeiten seiner Dichtung, spöttisch hißte sie Satan dann auf Babelhöhe, Satan Daniel Jesus, Paul Leppins Geschöpf, von dem er sich losträumte. Inmitten der Tanzenden sitzt Daniel Jesus zwischen nackten Eingeweiden, die sich verwickeln, verknoten nach seinem Szepter. Rasende Weiber taumeln sich im weichen, pochenden Raume und wachsen zu Lawinen über lüsterne Rücken. Und auf dem brandigen Haupt der Schusterfrau steht eine Mauer auf, eine leuchtende Krone, wie die des heiligen Landes – in ihrem Riesenleib tanzen alle die blutzerrissenen Leiber und ihre Teufel, wie in einer weißen Hölle; denn Daniel Jesus hat sie erhoben zu seiner Rechten. Es heißt im Buche: "Andächtig küßt sie seinen Buckel, wie ein Kruzifix." Paul Leppin, ich grüße dich.



Anmerkung dazu von Max Rychner:
Else Lasker-Schüler liebte diese Dichtung, denn "Das Ungezähmte sprach sie an; sie wollte Energie, Kraft, Phantasie spüren -- die lange Geduld des Bändigens hatte sie in ihrer Kunst nicht." (Else Lasker-Schüler. Dichtung und Dokumente. Gedichte - Prosa - Schauspiel - Briefe - Zeugnisse und Erinnerungen. München o. J. Hrsg. und ausgewählt von Ernst Ginsberg, p. 573).